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 Nathan der Weise: Leseprobe

Erster Aufzug

 

Hier kannst Du Dir einen Eindruck von der Darstellung und Qualität der Übersetzung machen.

 

dem Menschen ist 
Ein Mensch noch immer lieber, als ein Engel – 

Nathan I,1

Szene 1

Das Original

 

klassikerverstehen

 

Szene: Flur in Nathans Hause
Nathan von der Reise kommend, Daja ihm entgegen

Szene: Flur in Nathans Haus
Nathan von der Reise kommend, Daja ihm entgegen

DAJA 
Er ist es! Nathan! – Gott sei ewig Dank, 
Daß Ihr doch endlich einmal wiederkommt.

DAJA
Er ist es! Nathan! Gott sei ewig Dank, dass Ihr endlich wieder da seid.

NATHAN 
Ja, Daja; Gott sei Dank! Doch warum endlich? 
Hab' ich denn eher wiederkommen wollen? 
Und wiederkommen können? Babylon 
Ist von Jerusalem, wie ich den Weg, 
Seitab bald rechts, bald links, zu nehmen bin
Genötigt worden, gut zweihundert Meilen; 
Und Schulden einkassieren, ist gewiß 
Auch kein Geschäft, das merklich födert, das 
So von der Hand sich schlagen läßt.

NATHAN

Ja, Daja. Gott sei Dank! Aber warum „endlich“? Wollte ich denn eher zurückkommen? Und hätte ich überhaupt gekonnt? Babylon ist bei den Umwegen, die ich nehmen musste, gute zweihundert Meilen von Jerusalem entfernt, und Schulden einzutreiben ist gewiss auch kein Geschäft, das einen gut voranbringt, das sich leicht erledigen lässt.


 

DAJA
O Nathan, Wie elend, elend hättet Ihr indes 
Hier werden können! Euer Haus ...

DAJA
Oh Nathan, wie unglücklich, unglücklich hättet Ihr in der Zwischenzeit hier werden können! Euer Haus…

NATHAN
Das brannte. So hab' ich schon vernommen. – Gebe Gott, 
Daß ich nur alles schon vernommen habe!

NATHAN
Das brannte. Das habe ich schon erfahren. Gebe Gott, dass ich auch wirklich alles schon erfahren habe!
DAJA 
Und wäre leicht von Grund aus abgebrannt.
DAJA
…und wäre beinahe komplett abgebrannt.

NATHAN 
Dann, Daja, hätten wir ein neues uns 
Gebaut; und ein bequemeres.

NATHAN 
Dann, Daja, hätten wir uns ein neues gebaut. Und ein bequemeres.

DAJA
Schon wahr! –  Doch Recha wär' bei einem Haare mit 
Verbrannt.

DAJA
Schon wahr! Doch wäre Recha um ein Haar mit verbrannt.

NATHAN
Verbrannt? Wer? meine Recha? sie? – 
Das hab' ich nicht gehört. – Nun dann! So hätte 
Ich keines Hauses mehr bedurft. – Verbrannt 
Bei einem Haare! – Ha! sie ist es wohl! 
Ist wirklich wohl verbrannt! – Sag nur heraus! 
Heraus nur! – Töte mich: und martre mich 
Nicht länger. – Ja, sie ist verbrannt.

NATHAN
Verbrannt? Wer? Meine Recha? Sie? Das hab' ich nicht gehört. Nun dann! Dann hätte ich kein Haus mehr gebraucht. Verbrannt um ein Haar! Ha! Sie ist es bestimmt! Ist bestimmt verbrannt! Sag es ruhig! Nur raus damit! Töte mich – und foltere mich nicht länger. Ja, sie ist verbrannt.

DAJA
Wenn sie Es wäre, würdet Ihr von mir es hören?

DAJA
Wenn sie es wäre, würdet Ihr es dann von mir erfahren?

NATHAN 
Warum erschreckest du mich denn? – O Recha! 
O meine Recha!

NATHAN
Warum erschreckst du mich dann so? Oh Recha! Oh meine Recha!

DAJA
Eure? Eure Recha?

DAJA
Eure? Eure Recha?

NATHAN 
Wenn ich mich wieder je entwöhnen müßte, 
Dies Kind mein Kind zu nennen!

NATHAN
Wenn ich mir jemals wieder abgewöhnen müsste, dieses Kind mein Kind zu nennen!

DAJA
Nennt Ihr alles, Was Ihr besitzt, mit ebenso viel Rechte 
Das Eure?

DAJA
Nennt Ihr alles, was Ihr besitzt, mit dem gleichen Recht das Eure?

NATHAN
Nichts mit größerm! Alles, was 
Ich sonst besitze, hat Natur und Glück 
Mir zugeteilt. Dies Eigentum allein 
Dank' ich der Tugend.

NATHAN
Nichts mit größerem! Alles, was ich sonst besitze, haben Natur und Glück mir zugeteilt. Dieses Eigentum allein verdanke ich der Tugend.

DAJA
O wie teuer laßt 
Ihr Eure Güte, Nathan, mich bezahlen! 
Wenn Güt', in solcher Absicht ausgeübt, 
Noch Güte heißen kann!

DAJA
Ach Nathan, wie teuer lasst Ihr mich für Eure Güte bezahlen! Wenn man bei einer Güte, die mit solch einer Absicht ausgeführt wird, überhaupt noch von Güte sprechen kann! 

NATHAN
In solcher Absicht? In welcher?

NATHAN
Mit solch einer Absicht? Mit welcher?

DAJA
Mein Gewissen ...

DAJA
Mein Gewissen…

NATHAN
Daja, laß 
Vor allen Dingen dir erzählen ...

NATHAN
Daja, lass dir zuerst einmal erzählen…

DAJA
Mein Gewissen, sag ich ...

DAJA
…mein Gewissen, sage ich…

NATHAN
Was in Babylon 
Für einen schönen Stoff ich dir gekauft. 
So reich, und mit Geschmack so reich! Ich bringe 
Für Recha selbst kaum einen schönern mit.

NATHAN
…was ich dir in Babylon für einen schönen Stoff gekauft habe. So kostbar und so edel! Für Recha selbst bringe ich kaum einen schöneren mit.

DAJA 
Was hilft's? Denn mein Gewissen, muß ich Euch 
Nur sagen, läßt sich länger nicht betäuben.

DAJA
Was hilft's? Denn mein Gewissen, muss ich Euch jetzt endlich sagen, lässt sich nicht noch länger betäuben.

NATHAN 
Und wie die Spangen, wie die Ohrgehenke, 
Wie Ring und Kette dir gefallen werden, 
Die in Damaskus ich dir ausgesucht: 
Verlanget mich zu sehn.

NATHAN
Und wie die Spangen, der Ohrschmuck, wie Ring und Kette dir gefallen werden, die ich dir in Damaskus ausgesucht habe: Das will ich sehen.

DAJA
So seid Ihr nun! 
Wenn Ihr nur schenken könnt! nur schenken könnt!

DAJA
So seid Ihr nun mal! Wenn Ihr nur schenken könnt! Nur schenken könnt!

NATHAN 
Nimm du so gern, als ich dir geb': – und schweig!

NATHAN
Nimm du so gerne wie ich dir gebe: und schweig!

DAJA 
Und schweig! – Wer zweifelt, Nathan, daß Ihr nicht 
Die Ehrlichkeit, die Großmut selber seid? 
Und doch ...

DAJA
Und schweig! Wer bezweifelt, Nathan, dass Ihr die Ehrlichkeit und Großmut in Person seid! Und doch…

NATHAN
Doch bin ich nur ein Jude. – Gelt, 
Das willst du sagen?

NATHAN
…doch bin ich nur ein Jude. Das willst du sagen, richtig?

DAJA
Was ich sagen will, Das wißt Ihr besser.

DAJA
Was ich sagen will, das wisst Ihr besser.

NATHAN
Nun so schweig!

NATHAN
Na dann schweig!

DAJA
Ich schweige. 
Was Sträfliches vor Gott hierbei geschieht, 
Und ich nicht hindern kann, nicht ändern kann, – 
Nicht kann, – komm' über Euch!

DAJA
Ich schweige. Was hierbei Sträfliches vor Gott geschieht, und ich weder aufhalten noch ändern kann, komme über Euch!

NATHAN
Komm' über mich! – 
Wo aber ist sie denn? wo bleibt sie? – Daja, 
Wenn du mich hintergehst! – Weiß sie es denn, 
Daß ich gekommen bin?

NATHAN
Komme über mich! Wo aber ist sie, wo bleibt sie? Daja, wenn du mich hintergehst! Weiß sie denn, dass ich wieder da bin?

DAJA
Das frag' ich Euch! 
Noch zittert ihr der Schreck durch jede Nerve. 
Noch malet Feuer ihre Phantasie 
Zu allem, was sie malt. Im Schlafe wacht, 
Im Wachen schläft ihr Geist: bald weniger 
Als Tier, bald mehr als Engel.

DAJA
Das frag' ich Euch! Ihr zittern immer noch alle Nerven vor Schreck. Immer noch mischt ihre Phantasie Feuer in all ihre Gedanken. Im Schlaf ist ihr Geist wach, und wenn sie wach ist, schläft er. Er wandelt zwischen dem eines Tieres und dem eines Engels hin und her.

NATHAN
Armes Kind! Was sind wir Menschen!

NATHAN
Armes Kind! Was sind wir Menschen!

DAJA
Diesen Morgen lag 
Sie lange mit verschloßnem Aug', und war 
Wie tot. Schnell fuhr sie auf, und rief: »Horch! horch! 
Da kommen die Kamele meines Vaters! 
Horch! seine sanfte Stimme selbst!« – Indem 
Brach sich ihr Auge wieder: und ihr Haupt, 
Dem seines Armes Stütze sich entzog, 
Stürzt' auf das Kissen. – Ich, zur Pfort' hinaus! 
Und sieh: da kommt Ihr wahrlich! kommt Ihr wahrlich! – 
Was Wunder! ihre ganze Seele war 
Die Zeit her nur bei Euch – und ihm. – 

DAJA
Heute Morgen lag sie lange mit verschlossenen Augen da und war wie tot. Dann fuhr sie schnell auf und rief: „Horch, horch! Da kommen die Kamele meines Vaters! Horch! Seine sanfte Stimme selbst!“ Aber sofort schlossen sich ihre Augen wieder und ihr Kopf, von ihrem Arm nicht mehr gestützt, stürzte auf das Kissen. Ich, zur Tür hinaus! Und sieh: Da kommt Ihr wirklich! Kommt Ihr wirklich! Was für ein Wunder! Ihre ganze Seele war seitdem nur bei Euch – und ihm.

NATHAN
Bei ihm? Bei welchem Ihm?

NATHAN
Bei ihm? Bei welchem „ihm“?

DAJA
Bei ihm, der aus dem Feuer Sie rettete.

DAJA
Bei dem, der sie aus dem Feuer rettete.

NATHAN
Wer war das? wer? – Wo ist er? 
Wer rettete mir meine Recha? wer?

NATHAN
Wer war das? Wer? Wo ist er? Wer rettete mir meine Recha? Wer?

DAJA 
Ein junger Tempelherr, den, wenig Tage 
Zuvor, man hier gefangen eingebracht, 
Und Saladin begnadigt hatte.

DAJA
Ein junger Tempelherr, den man wenige Tage zuvor hier gefangen hergebracht hatte, und den Saladin begnadigt hatte.

NATHAN
Wie? 
Ein Tempelherr, dem Sultan Saladin 
Das Leben ließ? Durch ein geringres Wunder 
War Recha nicht zu retten? Gott!

NATHAN
Wie? Ein Tempelherr, dem Sultan Saladin das Leben ließ? Durch ein kleineres Wunder war Recha nicht zu retten? Gott!

DAJA
Ohn' ihn, 
Der seinen unvermuteten Gewinst 
Frisch wieder wagte, war es aus mit ihr.

DAJA
Ohne ihn, der seinen unerwarteten Gewinn gleich wieder aufs Spiel setzte, wäre es mit ihr aus gewesen.

NATHAN 
Wo ist er, Daja, dieser edle Mann? – 
Wo ist er? Führe mich zu seinen Füßen. 
Ihr gabt ihm doch vors erste, was an Schätzen 
Ich euch gelassen hatte? gabt ihm alles? 
Verspracht ihm mehr? weit mehr?

NATHAN
Wo ist er, Daja, dieser edle Mann? Wo ist er? Führe mich zu seinen Füßen. Ihr gabt ihm doch vorerst, was ich euch an Schätzen dagelassen hatte? Gabt ihm alles? Verspracht ihm mehr? Weit mehr?

DAJA
Wie konnten wir?

DAJA
Wie konnten wir?

NATHAN 
Nicht? nicht?

NATHAN
Nicht? Nicht?

DAJA
Er kam, und niemand weiß woher. 
Er ging, und niemand weiß wohin. – Ohn' alle 
Des Hauses Kundschaft, nur von seinem Ohr 
Geleitet, drang, mit vorgespreiztem Mantel, 
Er kühn durch Flamm' und Rauch der Stimme nach, 
Die uns um Hülfe rief. Schon hielten wir 
Ihn für verloren, als aus Rauch und Flamme 
Mit eins er vor uns stand, im starken Arm 
Empor sie tragend. Kalt und ungerührt
Vom Jauchzen unsers Danks, setzt seine Beute 
Er nieder, drängt sich unters Volk und ist –
Verschwunden!

DAJA
Er kam, und niemand weiß woher. Er ging, und niemand weiß wohin. Er kämpfte sich, ohne das Haus zu kennen, nur von seinem Gehör geleitet und mit seinem Mantel vor sich ausgebreitet, mutig durch die Flammen und den Rauch in Richtung der Stimme, die um unsere Hilfe rief. Wir hielten ihn schon für verloren, als er plötzlich aus dem Rauch und dem Feuer heraustretend vor uns stand und sie in seinen starken Armen hielt. Kalt und ungerührt von unserem überschwänglichen Dank setzt er seine Beute ab, drängt sich unter die Leute und ist verschwunden!

NATHAN
Nicht auf immer, will ich hoffen.

NATHAN
Nicht für immer, will ich hoffen.

DAJA 
Nachher die ersten Tage sahen wir 
Ihn untern Palmen auf und nieder wandeln, 
Die dort des Auferstandnen Grab umschatten. 
Ich nahte mich ihm mit Entzücken, dankte, 
Erhob, entbot, beschwor, – nur einmal noch 
Die fromme Kreatur zu sehen, die 
Nicht ruhen könne, bis sie ihren Dank 
Zu seinen Füßen ausgeweinet.

DAJA
In den ersten Tagen danach sahen wir ihn unter den Palmen auf- und niederwandeln, die dort das Grab des Auferstandenen umgeben. Ich ging mit Entzücken auf ihn zu, dankte ihm, pries ihn, bot ihm an, flehte ihn an, nur einmal noch die fromme Kreatur zu sehen, die nicht ruhen könne, bis sie ihren Dank an seinen Füßen ausgeweint haben würde.

NATHAN
Nun?

NATHAN
Nun?

DAJA 
Umsonst! Er war zu unsrer Bitte taub; 
Und goß so bittern Spott auf mich besonders ...

DAJA
Umsonst! Er war taub für unsere Bitte und goss so bitteren Spott auf mich, besonders…

NATHAN
Bis dadurch abgeschreckt ...

NATHAN
…bis dadurch abgeschreckt…

DAJA
Nichts weniger! 
Ich trat ihn jeden Tag von neuem an; 
Ließ jeden Tag von neuem mich verhöhnen. 
Was litt ich nicht von ihm! Was hätt' ich nicht 
Noch gern ertragen! – Aber lange schon 
Kommt er nicht mehr, die Palmen zu besuchen, 
Die unsers Auferstandnen Grab umschatten; 
Und niemand weiß, wo er geblieben ist. –
Ihr staunt? Ihr sinnt?

DAJA
Nichts weniger! Ich trat jeden Tag von neuem an ihn heran, und ließ mich jeden Tag von neuem verhöhnen. Was erlitt ich nicht durch ihn! Was hätte ich nicht noch gerne ertragen! Aber schon seit langem kommt er nicht mehr, die Palmen beim Grab unseres Auferstandenen zu besuchen, und niemand weiß, wo er geblieben ist. Ihr seid ja ganz erstarrt. Woran denkt Ihr?

NATHAN
Ich überdenke mir, 
Was das auf einen Geist, wie Rechas, wohl 
Für Eindruck machen muß. Sich so verschmäht 
Von dem zu finden, den man hochzuschätzen 
Sich so gezwungen fühlt; so weggestoßen, 
Und doch so angezogen werden; – Traun, 
Da müssen Herz und Kopf sich lange zanken, 
Ob Menschenhaß, ob Schwermut siegen soll. 
Oft siegt auch keines; und die Phantasie, 
Die in den Streit sich mengt, macht Schwärmer, 
Bei welchen bald der Kopf das Herz, und bald 
Das Herz den Kopf muß spielen. – Schlimmer Tausch! – 
Das letztere, verkenn' ich Recha nicht, 
Ist Rechas Fall: sie schwärmt.

NATHAN
Ich denke darüber nach, was das auf einen Geist wie den von Recha für einen Eindruck machen muss. Von demjenigen so verschmäht zu werden, bei dem man doch gar nicht anders kann, als ihn hochzuschätzen; so weggestoßen und doch so angezogen zu werden. Da müssen Herz und Kopf sich bestimmt lange zanken, ob Menschenhass oder Schwermut siegen soll. Oft siegt auch keines, und die Phantasie, die sich in den Streit mischt, macht Schwärmer, bei denen mal der Kopf das Herz, und mal das Herz den Kopf spielen muss. Schlimmer Tausch! Das Letztere, wenn ich Recha hier nicht falsch einschätze, ist Rechas Fall: Sie schwärmt.

DAJA
Allein so fromm, So liebenswürdig!

DAJA
Aber so fromm, so liebenswürdig!

NATHAN
Ist doch auch geschwärmt!

NATHAN
Ist doch auch geschwärmt!

DAJA 
Vornehmlich eine – Grille, wenn Ihr wollt, 
Ist ihr sehr wert. Es sei ihr Tempelherr 
Kein irdischer und keines irdischen; 
Der Engel einer, deren Schutze sich 
Ihr kleines Herz, von Kindheit auf, so gern 
Vertrauet glaubte, sei aus seiner Wolke, 
In die er sonst verhüllt, auch noch im Feuer, 
Um sie geschwebt, mit eins als Tempelherr 
Hervorgetreten. – Lächelt nicht! – Wer weiß? 
Laßt lächelnd wenigstens ihr einen Wahn, 
In dem sich Jud' und Christ und Muselmann 
Vereinigen; – so einen süßen Wahn!

DAJA
Besonders ein – Hirngespinst, wenn man es so nennen will –, ist ihr viel wert. Sie glaubt, dass ihr Tempelherr weder ein echter Mensch noch das Kind eines Menschen sei. Einer der Engel, von denen sich ihr kleines Herz schon seit ihrer Kindheit beschützt gefühlt hat, sei aus seiner Wolke, in die er sonst verhüllt sei, und in der er sogar im Feuer noch um sie geschwebt sei, plötzlich in der Form eines Tempelherrn hervorgetreten. Lächelt nicht! Wer weiß? Lasst ihr zumindest mit einem Lächeln einen Wahn, in dem sich Jude, Christ und Muslim vereinigen. So ein süßer Wahn!

NATHAN 
Auch mir so süß! – Geh, wackre Daja, geh; 
Sieh, was sie macht; ob ich sie sprechen kann. – 
Sodann such' ich den wilden, launigen 
Schutzengel auf. Und wenn ihm noch beliebt, 
Hiernieden unter uns zu wallen; noch 
Beliebt, so ungesittet Ritterschaft 
Zu treiben: find' ich ihn gewiß; und bring' 
Ihn her.

NATHAN
Auch ich finde ihn süß! Geh, wackere Daja, geh. Sieh nach, was sie macht, und ob ich sie sprechen kann. Dann suche ich schon mal den wilden, launischen Schutzengel auf. Und falls er immer noch so gerne zwischen uns hier unten auf Erden wandelt und so unverschämt den ritterlichen Helden spielt, dann finde ich ihn bestimmt, und bringe ihn her.

DAJA 
Ihr unternehmet viel.

DAJA
Da habt Ihr Euch viel vorgenommen.

NATHAN
Macht dann 
Der süße Wahn der süßern Wahrheit Platz: – 
Denn, Daja, glaube mir; dem Menschen ist 
Ein Mensch noch immer lieber, als ein Engel – 
So wirst du doch auf mich, auf mich nicht zürnen, 
Die Engelschwärmerin geheilt zu sehn?

NATHAN
Macht dann der süße Wahn der süßeren Wahrheit Platz: – denn, Daja, glaube mir; dem Menschen ist ein Mensch noch immer lieber als ein Engel – dann wirst du mir, mir doch nicht böse sein, die Engelschwärmerin geheilt zu sehen?

DAJA 
Ihr seid so gut, und seid zugleich so schlimm! 
Ich geh'! – Doch hört! doch seht! – Da kommt sie selbst.

DAJA
Ihr seid so gut und seid zugleich so schlimm! Ich gehe! Doch hört! Seht! Da kommt sie selbst.

Szene 2

Das Original

klassikerverstehen

Recha und die Vorigen

Recha und die Vorigen

RECHA
So seid Ihr es doch ganz und gar, mein Vater? 
Ich glaubt', Ihr hättet Eure Stimme nur 
Vorausgeschickt. Wo bleibt Ihr? Was für Berge, 
Für Wüsten, was für Ströme trennen uns 
Denn noch? Ihr atmet Wand an Wand mit ihr, 
Und eilt nicht, Eure Recha zu umarmen? 
Die arme Recha, die indes verbrannte! –
Fast, fast verbrannte! Fast nur.
Schaudert nicht! 
Es ist ein
garst'ger Tod, verbrennen. O!

RECHA
Ihr seid es also tatsächlich, Vater? Ich dachte, Ihr hättet nur Eure Stimme vorausgeschickt. Wo bleibt Ihr? Was für Berge, für Wüsten, was für Flüsse trennen uns denn noch? Ihr atmet Wand an Wand mit ihr, und beeilt Euch gar nicht, Eure Recha zu umarmen? Die arme Recha, die inzwischen verbrannte! Fast, fast verbrannte! Fast nur. Keine Angst! Es ist ein qualvoller Tod, zu verbrennen. Oh!

NATHAN 
Mein Kind! mein liebes Kind!

NATHAN
Mein Kind! Mein liebes Kind!

RECHA      Ihr mußtet über 
Den
Euphrat, Tigris, Jordan; über – wer 
Weiß was für Wasser all? – Wie oft hab' ich 
Um Euch gezittert, eh das Feuer mir 
So nahe kam: Denn seit das Feuer mir 
So nahe kam; dünkt mich im Wasser sterben 
Erquickung,
Labsal, Rettung. – Doch Ihr seid 
Ja nicht ertrunken; ich, ich bin ja nicht 
Verbrannt. Wie wollen wir uns freu'n und Gott, 
Gott loben! Er, er trug Euch und den
Nachen 
Auf Flügeln seiner unsichtbaren Engel 
Die
ungetreuen Ström' hinüber. Er, 
Er winkte meinem Engel, daß er sichtbar 
Auf seinem weißen Fittiche, mich durch 
Das Feuer trüge –

RECHA
Ihr musstet über den Euphrat, Tigris, Jordan; über – wer weiß, was alles für Gewässer! – Wie oft habe ich um Euch gezittert, ehe das Feuer mir so nahe kam: Denn seitdem mir das Feuer so nahe kam, kommt mir im Wasser sterben wie Erfrischung, Wohltat, Rettung vor. – Doch Ihr seid ja nicht ertrunken; ich, ich bin ja nicht verbrannt. Wie wollen wir uns freuen und Gott, Gott loben! Er, er trug Euch und den Kahn auf den Flügeln seiner unsichtbaren Engel über die unberechenbaren Flüsse. Er, er winkte meinem Engel, dass er mich sichtbar auf seinen weißen Flügeln durch das Feuer tragen solle –

NATHAN (bei Seite)       Weißem Fittiche! 
Ja, ja! der weiße, vorgespreizte Mantel 
Des Tempelherrn.

NATHAN beiseite
Weißen Flügeln! Ja, ja! Der weiße, nach vorne ausgebreitete Mantel des Tempelherrn.

RECHA      Er sichtbar, sichtbar mich 
Durchs Feuer trüg',
von seinem Fittiche 
Verweht. – Ich also, ich hab' einen Engel 
Von Angesicht zu Angesicht gesehn; 
Und meinen Engel.

RECHA
Mich sichtbar, sichtbar durchs Feuer zu tragen, das seine Flügel fortwehen. – Ich also, ich habe einen Engel von Angesicht zu Angesicht gesehen; und meinen Engel.

NATHAN       Recha wär' es wert; 
Und würd' an ihm nichts Schönres sehn, als er 
An ihr.

NATHAN
Recha wäre es wert; und würde an ihm nichts Schöneres sehen, als er an ihr.

RECHA (lächelnd) 
Wem schmeichelt Ihr, mein Vater? wem? 
Dem Engel, oder Euch?

RECHA lächelnd
Wem schmeichelt Ihr, mein Vater? Wem? Dem Engel oder Euch selbst?

NATHAN       Doch hätt' auch nur 
Ein Mensch – ein Mensch, wie die Natur
sie täglich 
Gewährt, dir diesen Dienst erzeigt: er müßte 
Für dich ein Engel sein. Er müßt' und würde.

NATHAN
Doch selbst wenn bloß ein Mensch – ein ganz natürlicher Mensch – dir diesen Dienst erwiesen hätte: Er müsste für dich ein Engel sein. Er müsste und würde.

RECHA
Nicht so ein Engel; nein! ein wirklicher; 
Es war gewiß ein wirklicher! – Habt Ihr, 
Ihr selbst die Möglichkeit, daß Engel sind, 
Daß Gott zum Besten derer, die ihn lieben, 
Auch Wunder könne tun, mich nicht
gelehrt
Ich lieb' ihn ja.

RECHA
Nicht so ein Engel, nein! Ein echter, es war gewiss ein echter!
Habt Ihr, Ihr selbst mich die Möglichkeit, dass es Engel gibt, und dass Gott zum Wohl von denjenigen, die ihn lieben, Wunder tun kann, nicht selbst gelehrt? Ich liebe ihn ja.

NATHAN       Und er liebt dich; und tut 
Für dich, und deines gleichen, stündlich Wunder; 
Ja, hat sie schon von aller Ewigkeit 
Für euch getan.

NATHAN
Und er liebt dich, und tut für dich und deinesgleichen ständig Wunder; ja, hat sie schon vor aller Ewigkeit für euch getan.

RECHA      Das hör' ich gern.

RECHA
Das höre ich gern.

NATHAN       Wie? weil 
Es ganz natürlich, ganz alltäglich klänge, 
Wenn dich ein eigentlicher Tempelherr 
Gerettet hätte: sollt' es darum weniger 
Ein Wunder sein? – Der Wunder höchstes ist, 
Daß uns die wahren, echten Wunder so 
Alltäglich werden können, werden sollen. 
Ohn' dieses allgemeine Wunder, hätte 
Ein Denkender wohl schwerlich Wunder je 
Genannt, was Kindern bloß so heißen müßte, 
Die gaffend nur das Ungewöhnlichste, 
Das Neuste nur verfolgen.

NATHAN
Wie? – Weil es ganz natürlich, ganz alltäglich klänge, wenn dich ein normaler Tempelherr gerettet hätte: Sollte es darum weniger ein Wunder sein? Das größte aller Wunder ist, dass uns die wahren, echten Wunder so alltäglich werden können, werden sollen. Ohne dieses allgemeine Wunder hätte ein denkender Mensch wohl schwerlich Wunder je genannt, was bloß für Kinder so heißen müsste, die gaffend nur das Ungewöhnlichste, das Neuste nur verfolgen. 

DAJA (zu Nathan)       Wollt Ihr denn 
Ihr ohnedem schon überspanntes Hirn 
Durch solcherlei Subtilitäten ganz 
Zersprengen?

DAJA zu Nathan
Wollt Ihr denn ihr sowieso schon überspanntes Hirn mit solcherlei Spitzfindigkeiten völlig zersprengen?

NATHAN       Laß mich! – Meiner Recha wär' 
Es Wunders nicht genug, daß sie ein Mensch 
Gerettet, welchen
selbst kein kleines Wunder 
Erst retten müssen? Ja, kein kleines Wunder! 
Denn wer hat schon gehört, daß Saladin 
Je eines Tempelherrn verschont? daß je 
Ein Tempelherr von ihm verschont zu werden 
Verlangt? gehofft? ihm je für seine Freiheit 
Mehr als den ledern Gurt geboten, der 

Sein Eisen schleppt; und höchstens seinen Dolch?

NATHAN
Lass mich! Meiner Recha wäre es noch nicht Wunder genug, dass sie ein Mensch gerettet hätte, welchen selbst kein kleines Wunder erst retten musste? Ja, kein kleines Wunder! Denn wer hat schon gehört, dass Saladin je einen Tempelherrn verschont hätte? Dass je ein Tempelherr verlangt hätte, verschont zu werden? Oder darauf gehofft hätte? Ihm je für seine Freiheit mehr als den ledernen Gurt geboten hätte, der sein Schwert schleppt, und höchstens seinen Dolch?

RECHA
Das schließt für mich, mein Vater. – Darum eben 
War das kein Tempelherr; er schien es nur. – 
Kömmt kein gefangner Tempelherr je anders 
Als zum gewissen Tode nach Jerusalem; 
Geht keiner in Jerusalem so frei 
Umher: wie hätte mich des Nachts freiwillig 
Denn einer retten können?

RECHA
Das spricht doch für meine Theorie, Vater. Darum eben war das kein Tempelherr; er schien es nur. Wenn kein gefangener Tempelherr je für etwas anderes als seinen sicheren Tod nach Jerusalem kommt, wenn keiner von ihnen in Jerusalem so frei umhergeht: Wie hätte mich nachts dann freiwillig einer retten können?

NATHAN       Sieh! wie sinnreich. 
Jetzt, Daja, nimm das Wort. Ich hab' es ja 
Von dir, daß er gefangen hergeschickt 
Ist worden. Ohne Zweifel weißt du mehr.

NATHAN
Sieh! Was für eine kluge Frage. Jetzt, Daja, sprich du. Ich habe es ja von dir, dass er als Gefangener hergeschickt wurde. Ohne Zweifel weißt du mehr.

DAJA 
Nun ja. – So sagt man freilich; – doch man sagt 
Zugleich, daß Saladin den Tempelherrn 
Begnadigt, weil er seiner Brüder einem, 
Den er besonders lieb gehabt, so ähnlich sehe. 
Doch da es viele zwanzig Jahre her, 
Daß dieser Bruder nicht mehr lebt, – er hieß, 
Ich weiß nicht wie; – er blieb, ich weiß nicht wo: – 
So klingt das ja so gar – so gar
unglaublich, 
Daß an der ganzen Sache wohl nichts ist.

DAJA
Nun ja; so sagt man zwar, aber man sagt auch, dass Saladin den Tempelherrn begnadigt hätte, weil er einem seiner Brüder – einem, den er besonders geliebt hätte – so ähnlich sehen würde. Doch da dieser Bruder schon seit Jahrzehnten nicht mehr lebt – ich weiß nicht wie er hieß oder wo er verblieb – darum klingt das eben so – so unglaubwürdig, dass an der ganzen Sache wohl gar nichts dran ist.

NATHAN 
Ei, Daja! Warum wäre denn das so 
Unglaublich? Doch wohl nicht – wie's wohl geschieht – 
Um lieber etwas noch Unglaublichers 
Zu glauben? – Warum hätte Saladin, 
Der sein Geschwister
insgesamt so liebt, 
In jüngern Jahren einen Bruder nicht 
Noch ganz besonders lieben können? – Pflegen 
Sich zwei Gesichter nicht zu ähneln? – Ist 
Ein alter Eindruck ein verlorner? –
Wirkt 
Das Nämliche nicht mehr das Nämliche? 
Seit wenn? – Wo steckt hier das Unglaubliche? 
Ei freilich,
weise Daja, wär's für dich 
Kein Wunder mehr; und deine Wunder nur 
Bedürf ... verdienen, will ich sagen, Glauben.

NATHAN
Ei, Daja! Warum wäre denn das so unglaubwürdig? Doch wohl nicht – wie's wohl geschieht –, um lieber etwas noch Unglaubwürdigeres zu glauben? Warum soll Saladin, der seine Geschwister allesamt so liebt, in jüngeren Jahren nicht einen Bruder noch ganz besonders geliebt haben können? Pflegen sich zwei Gesichter nicht zu ähneln? Ist ein alter Eindruck ein verlorener? Bringen die gleichen Dinge jetzt nicht mehr die gleiche Reaktion hervor? Seit wann? Wo steckt hier das Unglaubwürdige? Ei freilich, weise Daja, wäre es für dich kein Wunder mehr. Und nur deine Wunder, brauch- … ich meine, verdienen Glauben.

DAJA 
Ihr spottet.

DAJA
Ihr spottet.

NATHAN       Weil du meiner spottest. – Doch 
Auch so noch, Recha, bleibet deine Rettung 
Ein Wunder, dem nur möglich, der die strengsten 
Entschlüsse, die
unbändigsten Entwürfe 
Der Könige, sein Spiel – wenn nicht sein Spott – 
Gern an den schwächsten Fäden lenkt.

NATHAN
Weil du mich verspottest. Doch auch so noch, Recha, bleibt deine Rettung ein Wunder; eins, das nur der vollbringen kann, der die strengsten Entschlüsse und zügellosesten Entwürfe der Könige, der sein Spiel – wenn nicht seinen Spott – gerne an den schwächsten Fäden lenkt. 

RECHA      Mein Vater! 
Mein Vater, wenn ich irr', Ihr wißt, ich irre 
Nicht gern.

RECHA
Mein Vater! Mein Vater, wenn ich mich irre – Ihr wisst, dass ich mich nicht gerne irre.

NATHAN       Vielmehr, du läßt dich gern belehren. – 
Sieh! eine Stirn, so oder so gewölbt; 
Der Rücken einer Nase,
so vielmehr 
Als so geführet; Augenbraunen, die 
Auf einem scharfen oder stumpfen Knochen 
So oder so sich schlängeln; eine Linie, 
Ein Bug, ein Winkel, eine Falt', ein Mal, 
Ein Nichts, auf eines
wilden Europäers 
Gesicht: – und du entkömmst dem Feur, in Asien! 
Das wär' kein Wunder,
wundersücht'ges Volk? 
Warum bemüht ihr denn noch einen Engel?

NATHAN
Vielmehr, du lässt dich gerne belehren. Sieh! Eine Stirn, die so oder so gewölbt ist, der Rücken einer Nase, der eher so als so verläuft, Augenbrauen, die sich auf einem scharfen oder stumpfen Knochen so oder so schlängeln, eine Linie, eine Krümmung, ein Winkel, eine Falte, ein Mal, ein Nichts, auf dem Gesicht eines wilden Europäers: Und du entkommst dem Feuer, in Asien! Das soll kein Wunder sein, du abergläubisches Gesindel? Warum bemüht ihr denn noch einen Engel?

DAJA 
Was schadet's – Nathan, wenn ich sprechen darf – 
Bei alle dem, von einem Engel lieber 
Als einem Menschen sich gerettet denken? 
Fühlt man der ersten
unbegreiflichen 
Ursache seiner Rettung nicht sich so 
Viel näher?

DAJA 
Was schadet es – Nathan, wenn ich sprechen darf – bei alldem, wenn man sich lieber von einem Engel als von einem Menschen gerettet glaubt? Fühlt man sich der ersten unbegreiflichen Ursache seiner Rettung so nicht viel näher?

NATHAN       Stolz! und nichts als Stolz! Der Topf 
Von Eisen will mit einer silbern Zange 
Gern aus der Glut gehoben sein, um selbst 
Ein Topf von Silber sich zu dünken. – Pah! – 
Und was es schadet, fragst du? was es schadet? 
Was hilft es? dürft' ich nur hinwieder fragen. – 
Denn dein »Sich Gott um so viel näher fühlen«, 
Ist Unsinn oder Gotteslästerung. – 

Allein es schadet; ja, es schadet allerdings. – 
Kommt! hört mir zu. –
Nicht wahr? dem Wesen, das 
Dich rettete, – es sei ein Engel oder 
Ein Mensch, – dem möchtet ihr, und du besonders, 
Gern wieder viele große Dienste tun? – 
Nicht wahr? – Nun, einem Engel, was für Dienste, 
Für große Dienste könnt ihr dem wohl tun? 
Ihr könnt ihm danken; zu ihm seufzen, beten; 
Könnt in Entzückung über ihn zerschmelzen; 
Könnt an dem Tage seiner Feier fasten, 
Almosen spenden. – Alles nichts. – Denn mich 
Deucht immer, daß ihr selbst und euer Nächster 
Hierbei weit mehr gewinnt, als er. Er wird 
Nicht fett durch euer Fasten; wird nicht reich 
Durch eure Spenden; wird nicht herrlicher 
Durch eur Entzücken; wird nicht mächtiger 
Durch eur Vertraun. Nicht wahr?
Allein ein Mensch!

NATHAN
Stolz! Und nichts als Stolz! Der Eisentopf will gerne mit einer silbernen Zange aus der Glut gehoben werden, nur um sich selbst wie Silber vorzukommen.  Pah! Und was es schadet, fragst du? Was es schadet? Was hilft es, dürfte ich zurückfragen! Denn dein „Sich-Gott-umso-viel-näher-Fühlen“ ist Unsinn oder Gotteslästerung. 
Dagegen schadet es; ja es schadet allerdings. Kommt! Hört mir zu. Ist es nicht so: Für dieses Wesen, das dich rettete – es sei ein Engel oder ein Mensch – möchtet ihr, und du besonders, doch gerne im Gegenzug viel Gutes tun, nicht wahr? Nun, einem Engel, was könnt ihr dem wohl für Dienste, für große Dienste erweisen? Ihr könnt ihm danken, zu ihm seufzen, beten, könnt aus Entzückung vor ihm dahinschmelzen, könnt an seinem Gedenktag fasten, Almosen spenden – alles nichts. Denn ich denke mir immer, dass ihr selbst und euer Nächster hierbei weit mehr gewinnt, als er. Er wird nicht fett durch euer Fasten, wird nicht reich durch eure Spenden, wird nicht herrlicher durch euer Entzücken, wird nicht mächtiger durch euer Vertrauen. Nicht wahr? Aber ein Mensch!

DAJA 
Ei freilich hätt' ein Mensch, etwas für ihn 
Zu tun, uns mehr Gelegenheit verschafft. 
Und Gott weiß, wie bereit wir dazu waren! 
Allein er wollte ja, bedurfte ja 
So völlig nichts; war in sich, mit sich so 
Vergnügsam, als nur Engel sind, nur Engel 
Sein können.

DAJA
Ei freilich hätte ein Mensch uns mehr Gelegenheiten geboten, etwas für ihn zu tun. Und Gott weiß, wie bereit wir dazu waren! Bloß wollte er ja, brauchte ja so völlig nichts; war in sich und mit sich so zufrieden, wie es nur Engel sind, nur Engel sein können.

RECHA      Endlich, als er gar verschwand ...

RECHA
Als er schließlich verschwand…

NATHAN 
Verschwand? – Wie denn verschwand? – Sich untern Palmen 
Nicht ferner sehen ließ? – Wie? oder habt 
Ihr wirklich schon ihn weiter aufgesucht?

NATHAN
Verschwand? Wie denn verschwand? Sich unter den Palmen nicht weiter hat sehen lassen? Oder habt ihr ihn weiterhin aufgesucht?

DAJA 
Das nun wohl nicht.

DAJA
Das nun wohl nicht.

NATHAN       Nicht, Daja? nicht? – Da sieh 
Nun was es schadt! – Grausame Schwärmerinnen! –
Wenn dieser Engel nun – nun krank geworden! ...

NATHAN
Nicht, Daja? Nicht? Da sieh nun, wie es schadet! Grausame Schwärmerinnen! Wenn dieser Engel nun – nun krank geworden ist!

RECHA
Krank!

RECHA
Krank!

DAJA       Krank! Er wird doch nicht!

DAJA
Krank! Er wird doch nicht!

RECHA      Welch kalter Schauer 
Befällt mich! – Daja! – Meine Stirne, sonst 
So warm, fühl! ist auf einmal Eis.

RECHA
Was mich gerade für ein kalter Schauer befällt! Daja! Meine Stirn, die sonst so warm ist – fühl mal! – ist auf einmal Eis!

NATHAN       Er ist 
Ein Franke, dieses Klimas ungewohnt; 
Ist jung; der harten Arbeit seines
Standes
Des Hungerns, Wachens ungewohnt.

NATHAN
Er ist Europäer, ist dieses Klima nicht gewohnt. Ist jung, ist die harte Arbeit in seinem Stand, das Hungern und den Schlafmangel nicht gewohnt.

RECHA      Krank! krank!

RECHA
Krank! Krank!

DAJA 
Das wäre möglich, meint ja Nathan nur.

DAJA
Das wäre möglich, meint Nathan ja nur.

NATHAN 
Nun liegt er da! hat weder Freund, noch Geld 
Sich
Freunde zu besolden.

NATHAN
Nun liegt er da! Hat weder Freunde noch Geld, um Freunde anzuheuern.

RECHA      Ah, mein Vater!

RECHA
Ah, mein Vater!

NATHAN 
Liegt ohne Wartung, ohne Rat und Zusprach, 
Ein Raub der Schmerzen und des Todes da!

NATHAN
Liegt unversorgt, ohne Rat und Zuspruch da, den Schmerzen und dem Tod ausgeliefert!

RECHA
Wo? wo?

RECHA
Wo? Wo?

NATHAN       Er, der für eine, die er nie 
Gekannt, gesehn –
genug, es war ein Mensch –
Ins Feur sich stürzte ...

NATHAN
Er, der sich für eine, die er nie gekannt oder gesehen hat – kurz: es war ein Mensch – ins Feuer stürzte,…

DAJA       Nathan, schonet ihrer!

DAJA
Nathan, seid gut zu ihr!

NATHAN 
Der, was er rettete, nicht näher kennen, 
Nicht weiter sehen mocht', – um ihm den Dank 
Zu sparen ...

NATHAN
…der das, was er rettete, nicht näher kennen und nicht weiter sehen mochte, um ihm den Dank zu ersparen…

DAJA       Schonet ihrer, Nathan!

DAJA
Seid gut zu ihr, Nathan!

NATHAN       Weiter 
Auch nicht zu sehn verlangt', – es wäre denn, 
Daß er zum zweiten Mal es retten sollte – 

Denn gnug, es ist ein Mensch ...

NATHAN
…und es auch weiterhin nicht zu sehen verlangte, es sei denn, er sollte es ein zweites Mal retten. Denn kurz: Es ist ein Mensch...

DAJA       Hört auf, und seht!

DAJA
Hört auf und seht einmal hin!

NATHAN 
Der, der hat sterbend sich zu laben, nichts –
Als das Bewußtsein dieser Tat!

NATHAN
Der, der im Sterben keine andere Genugtuung hat, als das Wissen um diese Tat!

DAJA       Hört auf! 
Ihr tötet sie!

DAJA
Hört auf! Ihr tötet sie!

NATHAN       Und du hast ihn getötet! – 
Hättst so ihn töten können. – Recha! Recha! 
Es ist Arznei, nicht Gift, was ich dir reiche. 
Er lebt! – komm zu dir! – ist auch wohl nicht krank: 
Nicht einmal krank!

NATHAN
Und du hast ihn getötet! Hättest ihn so töten können! Recha! Recha! Es ist Arznei, kein Gift, was ich dir reiche. Er lebt! – Komm zu dir! – ist auch bestimmt nicht krank – nicht einmal krank!

RECHA      Gewiß? – nicht tot? nicht krank?

RECHA
Gewiss? Nicht tot? Nicht krank?

NATHAN 
Gewiß, nicht tot! Denn Gott lohnt Gutes, hier 
Getan, auch hier noch. – Geh! – Begreifst du aber, 
Wie viel andächtig schwärmen leichter, als 
Gut handeln ist? wie gern der schlaffste Mensch
Andächtig schwärmt, um nur, – ist er zu Zeiten 
Sich schon der Absicht deutlich nicht bewußt – 
Um nur gut handeln nicht zu dürfen?

NATHAN
Gewiss, nicht tot! Denn Gott belohnt Gutes, das hier getan wird, noch hier. Geh! Begreifst du aber, wie viel leichter es ist, andächtig zu schwärmen als gut zu handeln? Wie gerne der schlaffste Mensch andächtig schwärmt, nur um nicht gut handeln zu dürfen – wenn er sich währenddessen auch seiner Absicht gar nicht voll bewusst ist?

RECHA      Ah, 
Mein Vater! laßt, laßt Eure Recha doch 
Nie wiederum allein! – Nicht wahr, er kann 
Auch wohl verreist nur sein? –

RECHA
Ach, mein Vater! Lasst – lasst Eure Recha doch nie wieder allein! Er kann auch nur verreist sein, nicht wahr?

NATHAN       Geht! – Allerdings. – 
Ich seh', dort mustert mit neugier'gem Blick 
Ein Muselmann mir die beladenen 
Kamele. Kennt Ihr ihn?

NATHAN
Geht! – Allerdings. Ich sehe, dort mustert mir ein Muslim neugierig die beladenen Kamele. Kennt ihr ihn?

DAJA       Ha! Euer Derwisch.

DAJA
Ha! Euer Derwisch. 

NATHAN 
Wer?

NATHAN
Wer?

DAJA       Euer Derwisch; Euer Schachgesell!

DAJA
Euer Derwisch; Euer Partner beim Schach spielen!

NATHAN 
Al-Hafi? das Al-Hafi?

NATHAN
Al-Hafi? Der Al-Hafi?

DAJA       Itzt des Sultans 
Schatzmeister.

DAJA
Jetzt der Schatzmeister des Sultans.

NATHAN       Wie? Al-Hafi? Träumst du wieder? 
Er ist's! – wahrhaftig, ist's! – kömmt auf uns zu. 
Hinein mit euch, geschwind! – Was werd' ich hören!

NATHAN
Wie? Al-Hafi? Träumst du wieder? Er ist es! Wahrhaftig, ist es! Kommt auf uns zu. Hinein mit euch, schnell! Was werde ich hören!

Szene 3

Das Original

klassikerverstehen

Nathan und der Derwisch

Nathan und der Derwisch

DERWISCH 
Reißt nur die Augen auf, so weit Ihr könnt!

DERWISCH 
Reißt nur die Augen auf, so weit Ihr könnt!

NATHAN
Bist du's? Bist du es nicht? – In dieser Pracht, 
Ein Derwisch! ...

NATHAN
Bist du's? Oder bist du's nicht? In dieser Pracht, ein Derwisch!

DERWISCH       Nun? warum denn nicht? Läßt sich 
Aus einem Derwisch denn nichts, gar nichts machen?

DERWISCH
Nun? Warum denn nicht? Lässt sich aus einem Derwisch denn nichts, gar nichts machen?

NATHAN 
Ei wohl, genug! – Ich dachte mir nur immer, 
Der Derwisch – so der rechte Derwisch – woll' 
Aus sich nichts machen lassen.

NATHAN
Ei wohl, genug! Ich dachte nur immer, der Derwisch – also der rechte Derwisch – wolle aus sich nichts machen lassen.

DERWISCH       Beim Propheten! 
Daß ich kein rechter bin, mag auch wohl wahr sein. 

Zwar wenn man muß –

DERWISCH
Beim Propheten! Dass ich kein rechter bin, mag auch wohl wahr sein. Wenn man allerdings muss…

NATHAN       Muß! Derwisch! – Derwisch muß? 
Kein Mensch muß müssen, und ein Derwisch müßte? 
Was müßt' er denn?

NATHAN
Muss! Derwisch! Derwisch muss? Kein Mensch muss müssen, und ein Derwisch müsste? Was müsste er denn?

DERWISCH       Warum man ihn recht bittet, 
Und
er für gut erkennt: das muß ein Derwisch.

DERWISCH
Worum man ihn recht bittet, und was er für gut anerkennt: das muss ein Derwisch.

NATHAN 
Bei unserm Gott! da sagst du wahr. – Laß dich 
Umarmen, Mensch. – Du bist doch noch mein Freund?

NATHAN
Bei unserem Gott! Da hast du Recht. Lass dich umarmen, Mensch. Du bist doch noch mein Freund?

DERWISCH 
Und fragt nicht erst, was ich geworden bin?

DERWISCH
Und fragt nicht erst, was ich geworden bin?

NATHAN 
Trotz dem, was du geworden!

NATHAN
Trotz dessen, was du geworden bist!

DERWISCH       Könnt' ich nicht 
Ein Kerl im Staat geworden sein, des Freundschaft 
Euch
ungelegen wäre?

DERWISCH
Könnte ich nicht ein Kerl im Staat geworden sein, dessen Freundschaft für Euch von Nachteil sein könnte?

NATHAN       Wenn dein Herz 
Noch Derwisch ist, so
wag ich's drauf. Der Kerl 
Im Staat, ist nur dein
Kleid.

NATHAN
Wenn dein Herz noch Derwisch ist, dann lasse ich es darauf ankommen. Nur deine Kleidung ist der Kerl im Staat.

DERWISCH       Das auch geehrt 
Will sein. – Was meint Ihr? ratet! – Was wär' ich 
An Eurem Hofe.

DERWISCH
Die auch geehrt werden will. Was meint Ihr? Ratet! Was wäre ich an Eurem Hof?

NATHAN       Derwisch; weiter nichts. 
Doch neben her wahrscheinlich – Koch.

NATHAN
Derwisch; weiter nichts. Doch nebenher wahrscheinlich - Koch.

DERWISCH       Nun ja! 
Mein Handwerk bei Euch zu verlernen. – Koch! 
Nicht Kellner
auch? – Gesteht, daß Saladin 
Mich besser kennt. – Schatzmeister bin ich bei  
Ihm worden.

DERWISCH
Nun ja! Mein Handwerk bei Euch zu verlernen! Koch! Nicht
Kellermeister auch? Gestattet, dass Saladin mich besser kennt. Schatzmeister bin ich bei ihm geworden.

NATHAN       Du? – bei ihm?

NATHAN
Du? Bei ihm?

DERWISCH       Versteht: 
Des kleinern Schatzes, – denn des größern waltet 
Sein Vater noch – des Schatzes für sein Haus.

DERWISCH
Versteht: vom kleineren Schatz. Denn den größeren verwaltet sein Vater noch – den Schatz für sein Haus.

NATHAN 
Sein Haus ist groß.

NATHAN
Sein Haus ist groß.

DERWISCH       Und größer, als Ihr glaubt; 
Denn jeder Bettler ist von seinem Hause.

DERWISCH
Und größer als Ihr glaubt. Denn jeder Bettler ist von seinem Haus. 

NATHAN 
Doch ist den Bettlern Saladin so feind –

NATHAN
Aber Saladin ist Bettlern doch so feind…

DERWISCH 
Daß er mit Strumpf und Stiel sie zu vertilgen 
Sich vorgesetzt, – und sollt' er selbst darüber 
Zum Bettler werden.

DERWISCH
…dass er sich vorgenommen hat, sie bis zum letzten Rest auszurotten, selbst wenn er dadurch selbst zum Bettler werden sollte.

NATHAN       Brav! – So mein' ich's eben.

NATHAN.
Eben! So dachte ich es mir.

DERWISCH 
Er ist's auch schon
, trotz einem! – Denn sein Schatz 
Ist jeden Tag mit Sonnenuntergang 
Viel leerer noch, als leer. Die Flut, so hoch 
Sie morgens eintritt, ist des Mittags längst 
Verlaufen –

DERWISCH
Er ist's auch schon, mehr noch! Denn sein Schatz ist jeden Tag mit Sonnenuntergang noch leerer als leer. Die Flut – so hoch sie morgens eintritt – ist bis zum Mittag schon lange verlaufen.

NATHAN       Weil Kanäle sie zum Teil 
Verschlingen, die zu füllen oder zu 
Verstopfen, gleich unmöglich ist.

NATHAN
Weil Kanäle sie zum Teil verschlingen, die man ebensowenig füllen wie verstopfen kann.

DERWISCH       Getroffen!

DERWISCH
Ganz genau!

NATHAN 
Ich kenne das!

NATHAN
Ich kenne das!

DERWISCH       Es taugt nun freilich nichts, 
Wenn Fürsten Geier unter Äsern sind. 
Doch sind sie Äser unter Geiern, taugt's 
Noch zehnmal weniger.

DERWISCH
Es taugt zwar freilich nichts, wenn Fürsten Geier unter Aasen sind, aber sind sie Aase unter Geiern, taugt's noch zehn Mal weniger.

NATHAN       O nicht doch, Derwisch! 
Nicht doch!

NATHAN
Oh nicht doch, Derwisch! Nicht doch!

DERWISCH       Ihr habt gut reden, Ihr! – Kommt an: 
Was gebt Ihr mir? so tret' ich meine Stell' 
Euch ab.

DERWISCH
Ihr habt gut reden, Ihr! Sagt: Was gebt ihr mir? Dann trete ich Euch meine Stelle ab.

NATHAN       Was bringt dir deine Stelle?

NATHAN
Was bringt dir deine Stelle?

DERWISCH       Mir? 
Nicht viel. Doch Euch, Euch kann sie trefflich wuchern. 
– Denn ist es Ebb' im Schatz, – wie öfters ist, –
So zieht Ihr Eure Schleusen auf: schießt vor, 
Und nehmt an Zinsen, was Euch nur gefällt.

DERWISCH
Mir? Nicht viel. Aber Euch, Euch kann sie großen Ertrag einbringen.
Denn wenn Ebbe im Schatz ist – wie es öfters der Fall ist – dann zieht Ihr Eure Schleusen auf: Schießt vor, und nehmt an Zinsen, was Euch nur gefällt.

NATHAN 
Auch Zins vom Zins der Zinsen?

NATHAN
Auch Zins vom Zinseszins?

DERWISCH       Freilich!

DERWISCH
Freilich!

NATHAN       Bis 
Mein Kapital zu lauter Zinsen wird.

NATHAN
Bis mein Kapital zu lauter Zinsen wird.

DERWISCH 
Das lockt Euch nicht? – So schreibet unsrer Freundschaft 
Nur gleich den Scheidebrief! Denn wahrlich hab' 
Ich sehr auf Euch gerechnet.

DERWISCH
Das lockt Euch nicht? Dann kündigt mir nur gleich die Freundschaft! Denn ich hatte wahrlich sehr auf Euch gesetzt.

NATHAN       Wahrlich? Wie 
Denn so? wie so denn?

NATHAN
Wahrlich? Wie denn? Wieso denn?

DERWISCH       Daß Ihr mir mein Amt 
Mit Ehren würdet führen helfen; daß 
Ich allzeit offne Kasse bei Euch hätte. – 
Ihr schüttelt?

DERWISCH
Dass Ihr mir helfen würdet, mein Amt ehrenvoll zu führen, dass ich jederzeit Geld von Euch bekommen würde. Ihr schüttelt den Kopf?

NATHAN       Nun, verstehn wir uns nur recht! 
Hier gibt's zu unterscheiden. – Du? warum 
Nicht du? Al-Hafi Derwisch ist zu allem, 
Was ich vermag, mir stets willkommen. – Aber 
Al-Hafi Defterdar des Saladin, 
Der – dem –

NATHAN
Nun, damit wir uns recht verstehen: Hier gilt es, zu unterscheiden. Du? Warum nicht du? Für Al-Hafi Derwisch würde ich alles in meiner Macht Stehende tun, aber Al-Hafi, Schatzmeister  des Saladin, der – dem –

DERWISCH       Erriet ich's nicht? Daß Ihr doch immer 
So gut als klug, so klug als weise seid! – 
Geduld! Was Ihr am Hafi unterscheidet, 
Soll bald geschieden wieder sein. – Seht da 
Das Ehrenkleid, das Saladin mir gab. 
Eh es verschossen ist, eh es zu Lumpen 
Geworden, wie sie einen Derwisch kleiden, 
Hängt's in Jerusalem am Nagel, und 
Ich bin am Ganges, wo ich
leicht und barfuß 
Den heißen Sand mit meinen Lehrern trete.

DERWISCH
Hab
' ich's doch gewusst! Dass Ihr doch immer so gut wie klug und so klug wie weise seid! Geduld! Was Ihr bei Hafi unterscheidet, soll bald wieder geschieden sein. 
Seht da das Ehrengewand, das Saladin mir gab. Ehe es verbleicht ist, ehe es zu Lumpen geworden ist, wie sie einen Derwisch kleiden, hängt es in Jerusalem am Nagel und ich bin am Ganges, wo ich leicht und barfuß den heißen Sand mit meinen Lehrern trete.

NATHAN 
Dir ähnlich gnug!

NATHAN
Das würde zu dir passen!

DERWISCH       Und Schach mit ihnen spiele.

DERWISCH
Und Schach mit ihnen spiele.

NATHAN 
Dein höchstes Gut!

NATHAN
Dein höchstes Gut!

DERWISCH       Denkt nur, was mich verführte! – 
Damit ich selbst nicht länger betteln
dürfte? 
Den reichen Mann mit Bettlern spielen könnte? 
Vermögend wär' im Hui den reichsten Bettler 
In einen armen Reichen zu verwandeln?

DERWISCH
Denkt nur, was mich verführte! Damit ich selbst nicht länger zu betteln bräuchte? Den reichen Mann mit Bettlern spielen könnte? In der Lage wäre, den reichsten Bettler innerhalb eines Augenblicks in einen armen Reichen zu verwandeln? 

NATHAN 
Das nun wohl nicht.

NATHAN
Das nun wohl nicht.

DERWISCH       Weit etwas Abgeschmackters! 
Ich fühlte mich zum erstenmal geschmeichelt; 
Durch Saladins gutherz'gen
Wahn geschmeichelt –

DERWISCH
Etwas noch viel Niedrigeres! Ich fühlte mich zum ersten Mal geschmeichelt, durch Saladins gutherzige Annahme geschmeichelt.

NATHAN 
Der war?

NATHAN
Die war?

DERWISCH       »Ein Bettler wisse nur, wie Bettlern 
Zu Mute sei; ein Bettler habe nur 
Gelernt, mit guter Weise Bettlern geben. 
Dein Vorfahr, sprach er, war mir viel zu kalt, 
Zu rauh. Er gab so unhold, wenn er gab; 
Erkundigte so ungestüm sich erst 
Nach dem Empfänger; nie zufrieden, daß 
Er nur den Mangel kenne, wollt' er auch 
Des Mangels Ursach wissen, um die Gabe 
Nach dieser Ursach filzig
abzuwägen
Das wird Al-Hafi nicht! So unmild mild 
Wird Saladin im Hafi nicht erscheinen! 
Al-Hafi gleicht verstopften Röhren nicht, 
Die ihre klar und still empfangnen Wasser 
So unrein und so sprudelnd wieder geben. 
Al-Hafi denkt; Al-Hafi fühlt wie ich!« – 
So lieblich klang des Voglers Pfeife, bis 
Der Gimpel in dem Netze war. – Ich Geck! 
Ich eines Gecken Geck!

DERWISCH
Nur ein Bettler wüsste, wie Bettlern zumute sei. Nur ein Bettler habe gelernt, in guter Art Bettlern zu geben. „Dein Vorgänger“, sagte er, „war mir viel zu kalt, zu rau. Er gab so ungnädig, wenn er gab, erkundigte sich erst so ungestüm nach dem Empfänger. Nie zufrieden, dass er nur den Mangel kannte, wollte er auch die Ursache des Mangels kennen, um in seiner knickrigen Art den Geldbetrag entsprechend abzuwägen. Das wird Al-Hafi nicht! So geizig freigebig wird Saladin in Hafi nicht erscheinen! Al-Hafi gleicht keinen verstopften Röhren, die ihr klar und still empfangenes Wasser so unrein und so sprudelnd wiedergeben. Al-Hafi denkt, Al-Hafi fühlt wie ich!“ So lieblich klang die Pfeife des Vogelfängers, bis der dumme Vogel im Netz war. Ich Narr! Ich Narr eines Narren!

NATHAN       Gemach, mein Derwisch, 
Gemach!

NATHAN
Jetzt beruhige dich, mein Derwisch, beruhige dich!

DERWISCH       Ei was! – Es wär' nicht Geckerei, 
Bei Hunderttausenden die Menschen drücken, 
Ausmergeln, plündern, martern, würgen; und 
Ein Menschenfreund an einzeln scheinen wollen? 
Es wär' nicht Geckerei, des Höchsten Milde, 
Die sonder Auswahl über Bös' und Gute 
Und Flur und Wüstenei, in Sonnenschein 
Und Regen sich verbreitet, – nachzuäffen, 

Und nicht des Höchsten immer volle Hand 
Zu haben? Was? es wär' nicht Geckerei...

DERWISCH
Ei was! Es soll nicht närrisch sein, die Menschen zu Hunderttausenden zu bedrängen, auszumergeln, zu plündern, zu martern und zu würgen, und bei Einzelnen dann als Menschenfreund erscheinen zu wollen? Es soll nicht närrisch sein, die Großzügigkeit des Höchsten, die sich ohne Unterscheidung über Böse und Gute, über Flur und Wüste, in Sonnenschein und Regen verbreitet, nachzuäffen, aber ihn gar nicht in jedem Moment voll zu vertreten? Was? Es soll nicht närrisch sein…

NATHAN 
Genug! hör auf!

NATHAN
Genug! Hör auf!

DERWISCH       Laßt meiner Geckerei 
Mich doch nur auch erwähnen! – Was? es wäre 
Nicht Geckerei, an solchen Geckereien 
Die gute Seite dennoch auszuspüren, 
Um Anteil, dieser guten Seite wegen, 
An dieser Geckerei zu nehmen? He? 
Das nicht?

DERWISCH
Lasst mich auch noch meine eigene Narrheit erwähnen! Was? Es wäre nicht närrisch, bei einer solchen Narrheit dennoch die gute Seite zu suchen, um dieser guten Seite wegen an dieser Narrheit teilzunehmen? He? Das nicht?

NATHAN       Al-Hafi, mache, daß du bald 
In deine Wüste wieder kömmst. Ich fürchte, 
Grad' unter Menschen möchtest du ein Mensch 
Zu sein verlernen.

NATHAN
Al-Hafi, geh besser schnell wieder in deine Wüste zurück. Ich fürchte,
dass du es gerade unter Menschen verlernen könntest, ein Mensch zu sein.

DERWISCH       Recht, das fürcht ich auch. 
Lebt wohl!

DERWISCH
Richtig, das fürchte ich auch. Lebt wohl!

NATHAN       So hastig? – Warte doch, Al-Hafi. 
Entläuft dir denn die Wüste? – Warte doch! – 

Daß er mich hörte! – He, Al-Hafi! hier! – 
Weg ist er; und ich hätt' ihn noch so gern 
Nach unserm Tempelherrn gefragt. Vermutlich, 
Daß er ihn kennt.

NATHAN
So hastig? Warte doch, Al-Hafi. Läuft dir die Wüste denn weg? Warte doch! Er muss mich doch hören! He, Al-Hafi! Hier! Weg ist er. Und ich hätte ihn noch so gern nach unserem Tempelherrn gefragt. Vermutlich kennt er ihn.

Szene 4

Das Original

klassikerverstehen

Daja eilig herbei. Nathan

Daja eilig herbei. Nathan

DAJA       O Nathan, Nathan!

DAJA
Oh Nathan, Nathan!

NATHAN       Nun? 
Was gibt's?

NATHAN
Nun? Was gibt
's?

DAJA       Er läßt sich wieder sehn! Er läßt 
Sich wieder sehn!

DAJA
Er lässt sich wieder sehen, er lässt sich wieder sehen!

NATHAN       Wer, Daja? wer?

NATHAN
Wer, Daja? Wer?

DAJA       Er! er!

DAJA
Er! Er!

NATHAN 
Er? Er? – Wann läßt sich der nicht sehn! – Ja so, 
Nur euer Er heißt er. – Das sollt' er nicht! 
Und wenn er auch ein Engel wäre, nicht!

NATHAN
Er? Er? Wann lässt sich der nicht sehen! Ach ja, nur euer Er heißt er. Das sollte er nicht!  Und wenn er auch ein Engel wäre, nicht!

DAJA 
Er wandelt untern Palmen wieder auf 
Und ab; und bricht von Zeit zu Zeit sich Datteln.

DAJA
Er wandelt wieder unter den Palmen auf und ab, und bricht sich von Zeit zu Zeit Datteln ab.

NATHAN 
Sie essend? – und als Tempelherr?

NATHAN
Und isst sie? Und als Tempelherr?

DAJA       Was quält 
Ihr mich? – Ihr gierig Aug' erriet ihn hinter 
Den dicht verschränkten Palmen schon; und folgt 
Ihm unverrückt. Sie läßt Euch bitten, – Euch 
Beschwören, – ungesäumt ihn anzugehn. 
O eilt! Sie wird Euch aus dem Fenster winken, 
Ob er hinauf geht oder weiter ab 
Sich schlägt. O eilt!

DAJA
Was quält Ihr mich? In ihrem Verlangen hat sie ihn hinter den dichten Palmen schon ausgespäht und lässt ihn keine Sekunde aus den Augen. Sie lässt Euch bitten, Euch beschwören, ihn unverzüglich anzugehen. Beeilt Euch! Sie wird Euch aus dem Fenster winken, ob er bergauf geht oder sich weiter abwärts schlägt. Beeilt Euch!

NATHAN       So wie ich vom Kamele 
Gestiegen? – Schickt sich das? – Geh, eile du 
Ihm zu; und meld ihm meine Wiederkunft. 
Gib Acht, der Biedermann hat nur mein Haus 
In meinem Absein nicht betreten wollen; 
Und kömmt nicht ungern, wenn der Vater selbst 
Ihn laden läßt. Geh, sag, ich lass' ihn bitten, 
Ihn herzlich bitten ...

NATHAN
So wie ich gerade vom Kamel gestiegen bin? Schickt sich das? 
Geh, lauf du zu ihm hin, und gib ihm Bescheid, dass ich wieder zurück bin. Du wirst sehen: Er war nur zu anständig, mein Haus in meiner Abwesenheit zu betreten, und kommt nicht ungern, wenn ihn der Vater selbst einlädt. Geh, sag, ich lasse ihn bitten, ihn herzlich bitten...

DAJA       All umsonst! Er kömmt 
Euch nicht. – Denn kurz; er kömmt zu keinem Juden.

DAJA
Das wird nichts bringen! Er kommt nicht zu Euch. Denn kurz: Er kommt zu keinem Juden.

NATHAN 
So geh, geh wenigstens ihn anzuhalten; 
Ihn wenigstens mit deinen Augen zu 
Begleiten. – Geh, ich komme gleich dir nach.

(Nathan eilet hinein, und Daja heraus.)

NATHAN
Dann geh, geh wenigstens ihn anzuhalten, und behalte ihn im Auge. Geh; ich komme gleich nach.

Nathan eilt hinein, und Daja heraus.

Szene 5

Das Original

klassikerverstehen

Szene: ein Platz mit Palmen, unter welchen der Tempelherr auf und nieder geht. Ein Klosterbruder folgt ihm in einiger Entfernung von der Seite, immer als ob er ihn anreden wolle

Szene: ein Platz mit Palmen, unter welchen der Tempelherr auf- und niedergeht. Ein Klosterbruder folgt ihm in einiger Entfernung von der Seite, als wolle er ihn ansprechen

TEMPELHERR 
Der folgt mir nicht vor langer Weile! – Sieh, 
Wie schielt er nach den Händen! – Guter Bruder, ... 
Ich kann Euch auch wohl Vater nennen; nicht?

TEMPELHERR 
Der folgt mir nicht aus Langeweile! Sieh, wie schielt er nach den Händen! Guter Bruder – ich kann Euch auch „Vater“ nennen, nicht?

KLOSTERBRUDER 
Nur Bruder – Laienbruder nur; zu dienen.

KLOSTERBRUDER
Nur Bruder. Laienbruder nur. Zu dienen
.

TEMPELHERR 
Ja, guter Bruder, wer nur selbst was hätte! 
Bei Gott! bei Gott! Ich habe nichts –

TEMPELHERR
Ja, guter Bruder, wer nur selbst was hätte! Bei Gott! Bei Gott! Ich habe nichts.

KLOSTERBRUDER       Und doch 
Recht warmen Dank! Gott geb' Euch tausendfach, 
Was Ihr gern geben wolltet. Denn der Wille 
Und nicht die Gabe macht den Geber. – Auch 
Ward ich dem Herrn Almosens wegen gar 
Nicht nachgeschickt.

KLOSTERBRUDER
Und doch recht warmen Dank! Gott gebe Euch tausendfach, was Ihr gerne geben wolltet. Denn der Wille und nicht die Gabe macht den Geber. Außerdem bin ich gar nicht wegen eines Almosens dem Herrn nachgeschickt worden.

TEMPELHERR       Doch aber nachgeschickt?

TEMPELHERR
Doch aber nachgeschickt?

KLOSTERBRUDER 
Ja; aus dem Kloster.

KLOSTERBRUDER
Ja, aus dem Kloster.

TEMPELHERR       Wo ich eben jetzt 
Ein kleines Pilgermahl zu finden hoffte?

TEMPELHERR
Wo ich gerade eben gehofft hatte, eine kleine Pilgermahlzeit zu bekommen?

KLOSTERBRUDER 
Die Tische waren schon besetzt; komm' aber 
Der Herr nur wieder mit zurück.

KLOSTERBRUDER
Die Tische waren schon besetzt, aber komme der Herr nur wieder mit zurück.

TEMPELHERR       Wozu? 
Ich habe Fleisch wohl lange nicht gegessen: 
Allein was tut's? Die Datteln sind ja reif.

TEMPELHERR       
Wozu? Ich habe zwar schon lange kein Fleisch mehr gegessen, aber was soll
's. Die Datteln sind ja reif.

KLOSTERBRUDER 
Nehm' sich der Herr in Acht mit dieser Frucht. 
Zu viel genossen taugt sie nicht; verstopft 
Die Milz; macht melancholisches Geblüt.

KLOSTERBRUDER
Nehme sich der Herr in Acht mit dieser Frucht. Zu viel genossen ist sie nicht gut; sie macht schwermütig und melancholisch.

TEMPELHERR 
Wenn ich nun melancholisch gern mich fühlte? – 
Doch dieser Warnung wegen wurdet Ihr 
Mir doch nicht nachgeschickt?

TEMPELHERR
Aber was, wenn ich gern melancholisch wäre? Aber dieser Warnung wegen wurdet Ihr mir doch nicht nachgeschickt?

KLOSTERBRUDER       O nein! – Ich soll 
Mich nur nach Euch erkunden; auf den Zahn 
Euch fühlen.

KLOSTERBRUDER
Oh nein! Ich soll Euch nur ein wenig kennenlernen, Euch auf den Zahn fühlen.

TEMPELHERR       Und das sagt Ihr mir so selbst?

TEMPELHERR
Und das sagt Ihr mir einfach so?

KLOSTERBRUDER 
Warum nicht?

KLOSTERBRUDER
Warum nicht?

TEMPELHERR       (Ein verschmitzter Bruder!) – Hat 
Das Kloster Eures gleichen mehr?

TEMPELHERR
(Ein verschmitzter Bruder!) Hat das Kloster mehr von euresgleichen?

KLOSTERBRUDER       Weiß nicht. 
Ich muß gehorchen, lieber Herr.

KLOSTERBRUDER
Weiß nicht. Ich muss gehorchen, lieber Herr.

TEMPELHERR       Und da 
Gehorcht Ihr denn auch ohne viel zu klügeln?

TEMPELHERR
Und da gehorcht Ihr dann auch, ohne es besser wissen zu wollen?

KLOSTERBRUDER 
Wär's sonst gehorchen, lieber Herr?

KLOSTERBRUDER
Wäre es sonst Gehorchen, lieber Herr?

TEMPELHERR       (Daß doch 
Die Einfalt immer Recht behält!) – Ihr dürft 
Mir doch auch wohl vertrauen, wer mich gern 
Genauer kennen möchte? – Daß Ihr's selbst 
Nicht seid, will ich wohl schwören.

TEMPELHERR
(Dass doch die Einfalt immer Recht behält!) Bestimmt dürft Ihr mir doch auch anvertrauen, wer mich gern genauer kennen möchte? Dass Ihr selbst es nicht seid, will ich wohl schwören.

KLOSTERBRUDER       Ziemte mir's? 
Und frommte mir's?

KLOSTERBRUDER
Würde mir das ziemen? Und würde es mir nützen?

TEMPELHERR       Wem ziemt und frommt es denn, 
Daß er so neubegierig ist? Wem denn?

TEMPELHERR
Wem ziemt und nützt es denn, dass er so neugierig ist? Wem denn?

KLOSTERBRUDER 
Dem Patriarchen; muß ich glauben. – Denn 
Der sandte mich Euch nach.

KLOSTERBRUDER
Dem Patriarchen, muss ich glauben. Denn der schickte mich Euch nach.

TEMPELHERR       Der Patriarch? 
Kennt der das rote Kreuz auf weißem Mantel 
Nicht besser?

TEMPELHERR
Der Patriarch? Kennt der das rote Kreuz auf weißem Mantel nicht besser? 

KLOSTERBRUDER       Kenn' ja ich's!

KLOSTERBRUDER
Ich
kenne es ja!

TEMPELHERR       Nun, Bruder? nun? – 
Ich bin ein Tempelherr; und ein gefang'ner. – 
Setz' ich hinzu: gefangen bei Tebnin, 
Der Burg, die mit des Stillstands letzter Stunde 
Wir gern erstiegen hätten, um sodann 
Auf Sidon loszugehn; – setz' ich hinzu: 
Selbzwanzigster gefangen und allein 
Vom Saladin begnadiget: so weiß 
Der Patriarch, was er zu wissen braucht; 
Mehr, als er braucht.

TEMPELHERR
Nun, Bruder? Nun? Ich bin ein Tempelherr und ein Gefangener.
Ich füge hinzu: Gefangen bei Tebnin, der Burg, die wir gleich nach Ablauf des Waffenstillstands gern erstiegen hätten, um danach auf Sidon loszugehen. Ich füge hinzu: Als Zwanzigster gefangen und als Einziger von Saladin begnadigt. Jetzt weiß der Patriarch, was er wissen muss – mehr als er muss.

KLOSTERBRUDER       Wohl aber schwerlich mehr, 
Als er schon weiß. – Er wüßt' auch gern, warum 
Der Herr vom Saladin begnadigt worden; 
Er ganz allein.

KLOSTERBRUDER
Aber kaum mehr, als er schon weiß. Er wüsste auch gern, warum der Herr von Saladin begnadigt worden ist, er ganz allein.

TEMPELHERR       Weiß ich das selber? – Schon 
Den Hals entblößt, kniet' ich auf meinem Mantel, 
Den Streich erwartend: als mich schärfer Saladin 
Ins Auge faßt, mir näher springt und winkt. 
Man hebt mich auf; ich bin entfesselt; will 
Ihm danken; seh' sein Aug' in Tränen: stumm 
Ist er, bin ich; er geht, ich bleibe. – Wie 
Nun das zusammenhängt, enträtsle sich 
Der Patriarche selbst.

TEMPELHERR
Weiß ich das selber? Schon den Hals entblößt, kniete ich auf meinem Mantel und erwartete den Hieb, als mich Saladin schärfer ins Auge fasst, auf mich zu springt und abwinkt. Man hebt mich auf; ich bin losgebunden, will ihm danken, sehe Tränen in seinen Augen: Stumm ist er, bin ich; er geht, ich bleibe. Wie das nun zusammenhängt, soll der Patriarch selbst entschlüsseln.

KLOSTERBRUDER       Er schließt daraus, 
Daß Gott zu großen, großen Dingen Euch 
Müss' aufbehalten haben.

KLOSTERBRUDER
Er schließt daraus, dass Gott Euch für große, große Dinge aufgehoben haben muss.

TEMPELHERR       Ja, zu großen! 
Ein Judenmädchen aus dem Feur zu retten; 
Auf Sinai neugier'ge Pilger zu 
Geleiten; und dergleichen mehr.

TEMPELHERR
Ja, zu großen! Ein Judenmädchen aus dem Feuer zu retten, auf Sinai neugierige Pilger umherzuführen und dergleichen mehr.

KLOSTERBRUDER       Wird schon 
Noch kommen! – Ist inzwischen auch nicht übel. – 
Vielleicht hat selbst der Patriarch bereits 
Weit wicht'gere Geschäfte für den Herrn.

KLOSTERBRUDER
Wird schon noch kommen! Ist bisher auch nicht übel. Vielleicht hat der Patriarch bereits weit wichtigere Geschäfte für den Herrn.

TEMPELHERR 
So? meint Ihr, Bruder? – Hat er gar Euch schon 
Was merken lassen?

TEMPELHERR
So? Meint Ihr, Bruder? Hat er Euch davon schon etwas spüren lassen?

KLOSTERBRUDER       Ei, ja wohl! – Ich soll 
Den Herrn nur erst ergründen, ob er so 
Der Mann wohl ist.

KLOSTERBRUDER
Ei, ja wohl! Ich soll den Herrn bloß erst ergründen, ob er so ein Typ Mensch ist.

TEMPELHERR       Nun ja; ergründet nur! 
(Ich will doch sehn, wie der ergründet!) – Nun?

TEMPELHERR
Nun ja, ergründet nur! (Ich will doch sehen, wie der ergründet!) Nun?

KLOSTERBRUDER 
Das Kürz'ste wird wohl sein, daß ich dem Herrn 
Ganz grade zu des Patriarchen Wunsch 
Eröffne.

KLOSTERBRUDER
Am schnellsten geht es bestimmt, wenn ich dem Herrn ganz direkt den Wunsch des Patriarchen eröffne.

TEMPELHERR       Wohl!

TEMPELHERR
Richtig!

KLOSTERBRUDER       Er hätte durch den Herrn 
Ein Briefchen gern bestellt.

KLOSTERBRUDER
Er würde den Herrn gerne ein Briefchen überbringen lassen.

TEMPELHERR       Durch mich? Ich bin 
Kein Bote. – Das, das wäre das Geschäft, 
Das weit glorreicher sei, als Judenmädchen 
Dem Feur entreißen?

TEMPELHERR
Mich? Ich bin kein Bote. Das – das wäre das Geschäft, das weit glorreicher sei, als Judenmädchen dem zu Feuer zu entreißen?

KLOSTERBRUDER       Muß doch wohl! Denn – sagt 
Der Patriarch – an diesem Briefchen sei 
Der ganzen Christenheit sehr viel gelegen. 
Dies Briefchen wohl bestellt zu haben, – sagt 
Der Patriarch, – werd' einst im Himmel Gott 
Mit einer ganz besondern Krone lohnen. 
Und dieser Krone, – sagt der Patriarch, –
Sei niemand würd'ger, als mein Herr.

KLOSTERBRUDER
Muss doch wohl! Denn – sagt der Patriarch – an diesem Briefchen sei der ganzen Christenheit
 sehr viel gelegen. Dieses Briefchen wohl überbracht zu haben – sagt der Patriarch – werde einst im Himmel Gott mit einer ganz besonderen Krone belohnen. Und dieser Krone – sagt der Patriarch – sei niemand würdiger als mein Herr.

TEMPELHERR       Als ich?

TEMPELHERR
Als ich?

KLOSTERBRUDER 
Denn diese Krone zu verdienen, – sagt 
Der Patriarch, – sei schwerlich jemand auch 
Geschickter, als mein Herr.

KLOSTERBRUDER
Denn diese Krone zu verdienen – sagt der Patriarch – das könnte auch niemand besser, als mein Herr.

TEMPELHERR       Als ich?

TEMPELHERR
Als ich?

KLOSTERBRUDER       Er sei 
Hier frei; könn' überall sich hier besehn; 
Versteh', wie eine Stadt zu stürmen und 
Zu schirmen; könne, – sagt der Patriarch, – 
Die Stärk' und Schwäche der von Saladin 
Neu aufgeführten, innern, zweiten Mauer 
Am besten schätzen, sie am deutlichsten 
Den Streitern Gottes, – sagt der Patriarch, – 
Beschreiben.

KLOSTERBRUDER
Er sei hier frei, könne sich überall umsehen. Er verstehe, wie man eine Stadt stürmt oder verteidigt, könne – sagt der Patriarch – am besten die Stärke und Schwäche der von Saladin neu errichteten inneren, zweiten Mauer abschätzen und sie am genauesten den Streitern Gottes – sagt der Patriarch – beschreiben.

TEMPELHERR       Guter Bruder, wenn ich doch 
Nun auch des Briefchens nähern Inhalt wüßte.

TEMPELHERR
Guter Bruder, wenn ich doch nun auch den näheren Inhalt des Briefchens kennen würde…

KLOSTERBRUDER 
Ja den, – den weiß ich nun wohl nicht so recht. 
Das Briefchen aber ist an König Philipp. – 
Der Patriarch ... Ich hab' mich oft gewundert, 
Wie doch ein Heiliger, der sonst so ganz 
Im Himmel lebt, zugleich so unterrichtet 
Von Dingen dieser Welt zu sein herab 
Sich lassen kann. Es muß ihm sauer werden.

KLOSTERBRUDER
Ja den – den kenne ich eigentlich nicht so recht
. Das Briefchen ist aber an König Philipp. Der Patriarch… Ich habe mich oft gewundert, wie doch ein Heiliger, der sonst so ganz im Himmel lebt, sich gleichzeitig herablassen kann, von weltlichen Dingen eine so gute Kenntnis zu besitzen. Es muss ihn verbittern.

TEMPELHERR 
Nun dann? der Patriarch?

TEMPELHERR
Nun dann? Der Patriarch?

KLOSTERBRUDER       Weiß ganz genau, 
Ganz zuverlässig, wie und wo, wie stark, 
Von welcher Seite Saladin, im Fall 
Es völlig wieder losgeht, seinen Feldzug 
Eröffnen wird.

KLOSTERBRUDER
Weiß ganz genau, ganz zuverlässig, wie und wo, wie stark und von welcher Seite Saladin seinen Feldzug eröffnen wird, sollten die Kämpfe wieder losbrechen.

TEMPELHERR       Das weiß er?

TEMPELHERR
Das weiß er?

KLOSTERBRUDER       Ja, und möcht' 
Es gern dem König Philipp wissen lassen: 
Damit der ungefähr ermessen könne, 
Ob die Gefahr denn gar so schrecklich, um 
Mit Saladin den Waffenstillestand, 
Den Euer Orden schon so brav gebrochen, 
Es koste was es wolle, wieder her
Zu stellen.

KLOSTERBRUDER
Ja, und möchte es gerne König Philipp wissen lassen, damit der ungefähr ermessen könne, ob die Gefahr denn gar so schrecklich ist, dass er den Waffenstillstand mit Saladin, den Euer Orden schon so tapfer gebrochen hat, – es koste, was es wolle – wieder herstellt.

TEMPELHERR       Welch ein Patriarch! – Ja so! 
Der liebe tapfre Mann will mich zu keinem 
Gemeinen Boten; will mich – zum Spion. –
Sagt Euerm Patriarchen, guter Bruder, 
So viel Ihr mich ergründen können, wär' 
Das meine Sache nicht. – Ich müsse mich 
Noch als Gefangenen betrachten; und 
Der Tempelherren einziger Beruf 
Sei mit dem Schwerte drein zu schlagen, nicht 
Kundschafterei zu treiben.

TEMPELHERR
Welch ein Patriarch! Ja so! Der liebe, tapfere Mann will mich nicht als normalen Boten, will mich –  als Spion. Sagt Eurem Patriarchen, guter Bruder, so viel Ihr mich habt ergründen können, wäre das nicht meine Sache. Ich müsse mich noch als Gefangenen betrachten, und es sei der einzige Beruf eines Tempelherrn, mit dem Schwert dreinzuschlagen; nicht, Spionage zu betreiben.

KLOSTERBRUDER       Dacht' ich's doch! – 
Will's auch dem Herrn nicht eben sehr verübeln. – 
Zwar kömmt das Beste noch. – Der Patriarch 
Hiernächst hat ausgegattert, wie die Feste 
Sich nennt, und wo auf Libanon sie liegt, 
In der die ungeheuern Summen stecken, 
Mit welchen Saladins vorsichtger Vater 
Das Heer besoldet, und die Zurüstungen 
Des Kriegs bestreitet. Saladin verfügt 
Von Zeit zu Zeit auf abgelegnen Wegen 
Nach dieser Feste sich, nur kaum begleitet. – 
Ihr merkt doch?

KLOSTERBRUDER
Dachte ich es doch! Will es dem Herrn auch nicht sehr verübeln. Das Beste kommt aber erst noch: Als nächstes hat der Patriarch herausgefunden, wie die Festung sich nennt, und wo im Libanongebirge sie liegt, in der die ungeheuerlichen Summen stecken, mit welchen Saladins vorsichtiger Vater das Heer besoldet und die Vorbereitungen für den Krieg bestreitet. Saladin begibt sich von Zeit zu Zeit auf abgelegenen Wegen zu dieser Festung, mit sehr wenig Begleitung. Ihr versteht, was ich meine?

TEMPELHERR       Nimmermehr!

TEMPELHERR
Niemals!

KLOSTERBRUDER       Was wäre da 
Wohl leichter, als des Saladins sich zu 
Bemächtigen? den Garaus ihm zu machen? – 
Ihr schaudert? – O es haben schon ein paar 
Gottsfürchtge Maroniten sich erboten, 
Wenn nur ein wackrer Mann sie führen wolle, 
Das Stück zu wagen.

KLOSTERBRUDER
Was wäre da wohl leichter, als Saladin zu ergreifen? Ihm den Garaus zu machen? Ihr scheut zurück? Oh, es haben sich schon ein paar gottesfürchtige Maroniten angeboten, die Tat zu wagen, wenn sie nur ein wackerer Mann anführen wolle.

TEMPELHERR       Und der Patriarch 
Hätt' auch zu diesem wackern Manne mich 
Ersehn?

TEMPELHERR
Und als diesen wackeren Mann sieht mich der Patriarch auch an?

KLOSTERBRUDER       Er glaubt, daß König Philipp wohl 
Von Ptolemais aus die Hand hierzu 
Am besten bieten könne.

KLOSTERBRUDER
Er glaubt, dass König Philipp von Akkon aus wohl die meiste Unterstützung hierbei anbieten könne.

TEMPELHERR       Mir? mir, Bruder? 
Mir? Habt Ihr nicht gehört? nur erst gehört, 
Was für Verbindlichkeit dem Saladin 
Ich habe?

TEMPELHERR
Mir? Mir, Bruder? Mir? Habt Ihr nicht gehört? Gerade erst gehört, was ich Saladin gegenüber für Verbindlichkeiten habe?

KLOSTERBRUDER       Wohl hab' ich's gehört.

KLOSTERBRUDER
Natürlich habe ich es gehört.

TEMPELHERR       Und doch?

TEMPELHERR
Und doch?

KLOSTERBRUDER 
Ja, – meint der Patriarch, – das wär' schon gut: 
Gott aber und der Orden ...

KLOSTERBRUDER
Ja, – meint der Patriarch – das wäre schon gut; Gott aber, und der Orden…

TEMPELHERR       Ändern nichts! 
Gebieten mir kein Bubenstück!

TEMPELHERR
…ändern nichts! Können mir kein Verbrechen vorschreiben!

KLOSTERBRUDER       Gewiß nicht! – 
Nur, – meint der Patriarch, – sei Bubenstück 
Vor Menschen, nicht auch Bubenstück vor Gott.

KLOSTERBRUDER
Gewiss nicht! Nur – meint der Patriarch – sei ein Verbrechen vor Menschen nicht auch ein Verbrechen vor Gott.

TEMPELHERR 
Ich wär' dem Saladin mein Leben schuldig: 
Und raubt' ihm seines?

TEMPELHERR
Ich wäre Saladin mein Leben schuldig und würde ihm seines nehmen?

KLOSTERBRUDER       Pfui! – Doch bliebe, – meint 
Der Patriarch, – noch immer Saladin 
Ein Feind der Christenheit, der Euer Freund 
Zu sein, kein Recht erwerben könne.

KLOSTERBRUDER
Pfui! Doch bliebe – meint der Patriarch – Saladin noch immer ein Feind der Christenheit, der kein Recht dazu erwerben könne, Euer Freund zu sein.

TEMPELHERR       Freund? 
An dem ich bloß nicht will zum Schurken werden; 
Zum undankbaren Schurken?

TEMPELHERR
Freund? An dem ich bloß nicht zum Schurken werden will? Zum undankbaren Schurken?

KLOSTERBRUDER       Allerdings! – 
Zwar, – meint der Patriarch, – des Dankes sei 
Man quitt, vor Gott und Menschen quitt, wenn uns 
Der Dienst um unsertwillen nicht geschehen. 
Und da verlauten wolle, – meint der Patriarch, – 
Daß Euch nur darum Saladin begnadet, 
Weil ihm in Eurer Mien', in Euerm Wesen, 
So was von seinem Bruder eingeleuchtet ...

KLOSTERBRUDER
Allerdings! Aber – meint der Patriarch – Vom Dank ist man befreit, vor Gott und Menschen befreit, wenn der Dienst gar nicht um unseretwillen geschehen ist.
Und da es heißt – meint der Patriarch –, dass Saladin Euch nur darum begnadigt hat, weil er in Eurem Gesicht, in Eurem Wesen, etwas von seinem Bruder sah…

TEMPELHERR 
Auch dieses weiß der Patriarch, und doch? – 
Ah! wäre das gewiß! Ah, Saladin! – 
Wie? die Natur hätt' auch nur einen Zug 
Von mir in deines Bruders Form gebildet: 
Und dem entspräche nichts in meiner Seele? 
Was dem entspräche, könnt ich unterdrücken, 
Um einem Patriarchen zu gefallen? – 
Natur, so lügst du nicht! So widerspricht 
Sich Gott in seinen Werken nicht! – Geht, Bruder! 
Erregt mir meine Galle nicht! – Geht! – geht!

TEMPELHERR
Auch das weiß der Patriarch, und doch…? Ah! Wäre das gewiss! Ah, Saladin! Wie? Die Natur hätte auch nur einen Zug von mir nach der Form deines Bruders gebildet: und dem entspräche nichts in meiner Seele? Was dem entspräche, könnte ich unterdrücken, um einem Patriarchen zu gefallen? Natur, so lügst du nicht! So widerspricht sich Gott in seinen Werken nicht! Geht, Bruder! Macht mich nicht wütend! Geht! Geht!

KLOSTERBRUDER 
Ich geh'; und geh' vergnügter, als ich kam. 
Verzeihe mir der Herr. Wir Klosterleute 
Sind schuldig, unsern Obern zu gehorchen.

KLOSTERBRUDER
Ich gehe, und gehe vergnügter, als ich kam. Verzeihe mir der Herr.
Wir Klosterleute sind verpflichtet, unseren Oberen zu gehorchen.

Szene 6

Das Original

klassikerverstehen

Der Tempelherr und Daja, die den Tempelherrn schon eine Zeit lang von weiten beobachtet hatte, und sich nun ihm nähert

Der Tempelherr und Daja, die den Tempelherrn schon eine Zeit lang von weitem beobachtet hatte, und sich ihm nun nähert

DAJA 
Der Klosterbruder, wie mich dünkt, ließ in 
Der besten Laun' ihn nicht. – Doch muß ich mein 
Paket nur wagen.

DAJA
Der Klosterbruder, wie mir scheint, verließ ihn nicht in bester Laune. Doch muss ich mein Glück versuchen.

TEMPELHERR       Nun, vortrefflich! – Lügt 
Das Sprichwort wohl: daß Mönch und Weib, und Weib 
Und Mönch des Teufels beide Krallen sind? 
Er wirft mich heut aus einer in die andre.

TEMPELHERR
Ach, fabelhaft! Lügt denn das Sprichwort, dass Mönch und Frau, und Frau und Mönch die beiden Krallen des Teufels sind? Er wirft mich heute von der einen in die andere.

DAJA 
Was seh' ich? – Edler Ritter, Euch? – Gott Dank! 
Gott tausend Dank! – Wo habt Ihr denn 
Die ganze Zeit gesteckt? – Ihr seid doch wohl 
Nicht krank gewesen?

DAJA
Was sehe ich? Edler Ritter, Euch? Gott sei Dank! Gott sei tausend Dank! Wo habt Ihr denn die ganze Zeit gesteckt? Ihr seid doch wohl nicht krank gewesen?

TEMPELHERR       Nein.

TEMPELHERR
Nein.

DAJA       Gesund doch?

DAJA
Gesund doch?

TEMPELHERR       Ja.

TEMPELHERR
Ja.

DAJA 
Wir waren Euertwegen wahrlich ganz 
Bekümmert.

DAJA
Wir waren Euretwegen sehr besorgt.

TEMPELHERR       So?

TEMPELHERR
So?

DAJA       Ihr wart gewiß verreist?

DAJA
Ihr wart gewiss verreist?

TEMPELHERR 
Erraten!

TEMPELHERR
Erraten!

DAJA       Und kamt heut erst wieder?

DAJA
Und kamt heute erst wieder?

TEMPELHERR       Gestern.

TEMPELHERR
Gestern.

DAJA 
Auch Recha's Vater ist heut angekommen. 
Und nun darf Recha doch wohl hoffen?

DAJA
Auch Rechas Vater ist heute angekommen. Und nun darf Recha doch wohl hoffen?

TEMPELHERR       Was?

TEMPELHERR
Was?

DAJA 
Warum sie Euch so öfters bitten lassen. 
Ihr Vater ladet Euch nun selber bald 
Aufs dringlichste. Er kömmt von Babylon; 
Mit zwanzig hochbeladenen Kamelen, 
Und allem, was an edeln Spezereien, 
An Steinen und an Stoffen, Indien 
Und Persien und Syrien, gar Sina, 
Kostbares nur gewähren.

DAJA
Das, worum sie Euch so oft hat bitten lassen. Ihr Vater lädt Euch nun selbst aufs dringlichste zu sich ein. Er kommt von Babylon, mit zwanzig schwer beladenen Kamelen und allem Kostbaren, was Indien und Persien und Syrien, sogar China, an edlen Gewürzen, Edelsteinen und Stoffen zu bieten haben.

TEMPELHERR       Kaufe nichts.

TEMPELHERR
Kaufe nichts.

DAJA 
Sein Volk verehret ihn als einen Fürsten. 
Doch daß es ihn den weisen Nathan nennt, 
Und nicht vielmehr den reichen, hat mich oft 
Gewundert.

DAJA
Sein Volk verehrt ihn wie einen Fürsten. Doch dass es ihn den weisen Nathan nennt, und nicht vielmehr den reichen, hat mich oft gewundert.

TEMPELHERR       Seinem Volk ist reich und weise 
Vielleicht das nämliche.

TEMPELHERR
Seinem Volk ist reich und weise vielleicht dasselbe.

DAJA       Vor allen aber 
Hätt's ihn den Guten nennen müssen. Denn 
Ihr stellt Euch gar nicht vor, wie gut er ist. 
Als er erfuhr, wieviel Euch Recha schuldig: 
Was hätt', in diesem Augenblicke, nicht 
Er alles Euch getan, gegeben!

DAJA
Vor allem aber hätte es ihn den guten nennen müssen. Denn Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie gut er ist. Als er erfuhr, was Recha Euch verdankt: Was hätte er in diesem Augenblick nicht alles für Euch getan, Euch gegeben!

TEMPELHERR       Ei!

TEMPELHERR
Ei!

DAJA 
Versucht's und kommt und seht!

DAJA
Versucht's, und kommt und seht!

TEMPELHERR       Was denn? wie schnell 
Ein Augenblick vorüber ist?

TEMPELHERR
Was denn? Wie schnell ein Augenblick vorüber ist?

DAJA       Hätt' ich, 
Wenn er so gut nicht wär', es mir so lange 
Bei ihm gefallen lassen? Meint Ihr etwa, 
Ich fühle meinen Wert als Christin nicht? 
Auch mir ward's vor der Wiege nicht gesungen, 
Daß ich nur darum meinem Ehgemahl 
Nach Palästina folgen würd', um da 
Ein Judenmädchen zu erziehn. Es war 
Mein lieber Ehgemahl ein edler Knecht 
In Kaiser Friedrichs Heere –

DAJA
Hätte ich es mir, wenn er nicht so gut wäre, so lange bei ihm gefallen lassen? Meint Ihr etwa, ich fühle meinen Wert als Christin nicht? Auch mir wurde nicht an der Wiege vorgesungen, dass ich nur darum meinem Mann nach Palästina folgen würde, um da ein Judenmädchen zu erziehen. Mein Mann war ein edler Krieger in Kaiser Friedrichs Heer.

TEMPELHERR       Von Geburt 
Ein Schweizer, dem die Ehr' und Gnade ward, 
Mit Seiner Kaiserlichen Majestät 
In einem Flusse zu ersaufen. – Weib! 
Wie vielmal habt Ihr mir das schon erzählt? 
Hört Ihr denn gar nicht auf mich zu verfolgen?

TEMPELHERR
Von Geburt ein Schweizer, dem die Ehre und Gnade zuteil wurde, mit seiner Kaiserlichen Majestät in einem Fluss zu ersaufen. Mensch, wie viele Male habt Ihr mir das schon erzählt? Hört Ihr denn gar nicht auf, mich zu verfolgen?

DAJA 
Verfolgen! lieber Gott!

DAJA
Verfolgen! Lieber Gott!

TEMPELHERR       Ja, ja, verfolgen. 
Ich will nun einmal Euch nicht weiter sehn! 
Nicht hören! Will von Euch an eine Tat 
Nicht fort und fort erinnert sein, bei der 
Ich nichts gedacht; die, wenn ich drüber denke, 
Zum Rätsel von mir selbst mir wird. Zwar möcht' 
Ich sie nicht gern bereuen. Aber seht; 
Ereignet so ein Fall sich wieder: Ihr 
Seid schuld, wenn ich so rasch nicht handle; wenn 
Ich mich vorher erkund' – und brennen lasse, 
Was brennt.

TEMPELHERR
Ja, ja, verfolgen. Ich will Euch nunmal nicht mehr sehen! Nicht hören! Will von Euch nicht fort und fort an eine Tat erinnert werden, bei der ich nichts gedacht habe, bei der, wenn ich darüber nachdenke, ich mir selbst zum Rätsel werde. Ich möchte sie zwar nicht gerne bereuen, aber seht; ereignet sich so ein Fall wieder: Ihr seid schuld, wenn ich nicht so rasch handle, wenn ich vorher nachfrage – und brennen lasse, was brennt.

DAJA       Bewahre Gott!

DAJA
Gott bewahre!

TEMPELHERR       Von heut' an tut 
Mir den Gefallen wenigstens, und kennt 
Mich weiter nicht. Ich bitt' Euch drum. Auch laßt 
Den Vater mir vom Halse. Jud' ist Jude. 
Ich bin ein plumper Schwab. Des Mädchens Bild 
Ist längst aus meiner Seele; wenn es je 
Da war.

TEMPELHERR
Tut mir von heute an wenigstens den Gefallen, mich in Frieden zu lassen. Ich bitte Euch darum. Und haltet mir auch den Vater vom Hals. Jude ist Jude. Ich bin ein plumper Schwabe. Das Bild des Mädchens ist schon lange aus meiner Seele verschwunden, wenn es je da war.

DAJA       Doch Eures ist aus ihrer nicht.

DAJA
Aber Eures ist es nicht aus ihrer.

TEMPELHERR 
Was soll's nun aber da? was soll's?

TEMPELHERR
Was soll es nun aber da? Was soll's?

DAJA       Wer weiß! 
Die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen.

DAJA
Wer weiß! Die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen.

TEMPELHERR 
Doch selten etwas Bessers. (er geht.)

TEMPELHERR
Doch selten etwas Besseres. Er geht.

DAJA       Wartet doch! 
Was eilt Ihr?

DAJA
Wartet doch! Was rennt Ihr so?

TEMPELHERR       Weib, macht mir die Palmen nicht 
Verhaßt, worunter ich so gern sonst wandle.

TEMPELHERR
Mensch, macht mir die Palmen nicht verhasst, unter denen ich sonst so gern umhergehe!

DAJA 
So geh, du deutscher Bär! so geh! – Und doch 
Muß ich die Spur des Tieres nicht verlieren.

(Sie geht ihm von weiten nach.)

DAJA
Dann geh, du deutscher Bär! Dann geh! Und trotzdem darf ich die Spur des Tieres nicht verlieren.

Sie geht ihm von weitem nach.

 

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